Schreibimpulse

Fotografieren mit Worten

Mensch sitzt auf einem Berg und fotografiert in die Weite
Mit Sprache Bilder und Szenen einfangen Sprachliche Schnappschüsse und mehr…

Letzte Woche traf ich eine Kollegin*, die mir von ihrem „Schreib-Spaziergang“ durch Graz am Tag zuvor erzählte. Eine Schreibanregung, die sie dort für die TeilnehmerInnen angeleitet hatte, weckte mein besonderes Interesse und ich probierte sie auf der Heimreise von Graz nach Innsbruck gleich aus.

Es geht dabei um die Möglichkeit, mit Worten zu „fotografieren“: besonders auf Reisen ein spannender Impuls zum Schreiben. Und da der Sommer und somit die Urlaubs- und Reisezeit vor der Tür steht, könnte es keinen passenderen Zeitpunkt geben, um Ihnen diese Methode vorzustellen!

Das Fotografieren mit Worten** geht zurück auf den Schweizer Peter Wehrli (Journalist, Germanist und Kunstgeschichtler), der am Beginn einer langen Zugfahrt bemerkte, dass er seinen Fotoapparat vergessen hatte. So versuchte er, Bilder und Szenen stattdessen mithilfe der Sprache einzufangen. Um eine Ähnlichkeit zum Fotografieren herzustellen, bedient er sich einer bestimmten Form für seine Aufzeichnungen:

  1. Es werden nicht beliebige Bilder gesammelt, sondern nur Szenen/Dinge/Menschen, die uns als Betrachter:innen anspringen und einen (starken) Eindruck hinterlassen.
  2. Nachdem die Kamera nur einzelne Augenblicke festhalten kann, sollten auch die sprachlichen Schnappschüsse nur jeweils einen einzigen Satz umfassen. Damit wird u.a. Schnelligkeit und Punktualität erzeugt.
  3. Die chronologische Reihung von mehreren Aufnahmen ergibt einen Katalog. Da in Katalogen die Sätze kein Prädikat haben, fehlen diese auch hier. Wehrli hat seine Sätze sogar wie in Katalogen üblich nummeriert.***

Wehrli stellt etwas, das ihm ins Auge springt (Gegenstand, Person…) an den Anfang seines Satzes und konstruiert dann einen Relativsatz dazu, der diesen Gegenstand/die Person/das Detail näher beschreibt. Einige Beispiele:

15. das Blättern
Das suchend unsichere Blättern des Schalterbeamten im Bahnhof Zürich in Preislisten und Streckenverzeichnissen, weil er nur selten eine solche Fahrkarte ausstellen muß.
23. das Mädchen
Das verstörte Mädchen, das sich im Bahnhof Triest über Berge eigenen Gepäcks in den Korridor des
Wagens kämpft und Mitreisende fragt: „Mosca? Moscou? Moskau? Moskwa?“
88. die Staubwolke
Die Staubwolke über der Straße und den Dächern im Dorf Basköy, die mir verrät, daß da vor einiger
Zeit ein Auto vorbeigefahren sein muß. (Wehrli 1999, S. 13,14 + S. 30)

Der Fokus fällt also jeweils auf ein wichtiges Detail (Schalterbeamter, Mädchen, Staubwolke,…), das mit einem Ort in Verbindung gebracht wird und im Anschluss näher ausgeführt wird. Es handelt sich um eine Momentaufnahme, die durch die jeweilige Darstellung nähere Umstände preisgibt, das Bild in seiner Umgebung quasi einfriert. So entsteht ein Bildausschnitt vor dem Auge des Lesers/der Leserin, bei dem auch deutlich wird, warum den Autor dieses Bild beschäftigt bzw. angesprochen hat.

Den „Bauplan“ für das Fotografieren mit Worten könnte man folgendermaßen skizzieren:
1.) Gegenstand, Person, Detail
2.) Ergänzende Eigenschaft, Orts- oder Zeitangabe
3.) nähere Beschreibung, die das Detail/den Gegenstand/die Person in Szene setzt

schreibende Frau am Berg

Also:
Das suchend unsichere Blättern des Schalterbeamten im Bahnhof Zürich in Preislisten und Streckenverzeichnissen, weil er nur selten eine solche Fahrkarte ausstellen muß.
oder:
Der Zug, der quietschend auf Gleis 10 einfährt und die Wartenden am Bahnsteig dazu veranlasst, sich die Ohren zuzuhalten.

Als längeres Beispiel, wie aus solchen Momentaufnahmen eine Art Reisedokumentation entsteht, hänge ich meine „Fotografien“ der Zugfahrt Graz-Innsbruck an. (Obwohl sich dort – streng genommen – drei Zeilen eingeschlichen haben, die nicht fotografierbar wären… 😉 Sie trotzdem stehen zu lassen, sehe ich als die Freiheit des Fotografierens mit Sprache!)

Probieren Sie’s doch auf Ihrer nächsten Reise, einem Ausflug oder einer Wanderung aus. Es geht ganz leicht und macht Spaß!

In der Hoffnung, Sie zu einer etwas anderen Art des Fotografierens angeregt zu haben, wünsche ich Ihnen allen einen schönen, erholsamen und schreibfreudigen Ferienstart!

Herzliche Grüße,
Alexandra Peischer / schreib.raum


* Christina Boiger versorgt Graz und Umgebung mit witzigen und kreativen Ideen und Angeboten rund ums
Schreiben: www.schreibenmitchribs.at. Unbedingt weiterempfehlen, falls Sie dort jemanden kennen!

** Die Methode wird unter dem Titel „Notieren als Fotografieren“ vorgestellt im Buch „Schreiben dicht am
Leben. Notieren und Skizzieren“ von Hanns-Josef Ortheil (DUDEN, Reihe Kreatives Schreiben, Mannheim/Zürich 2012)

*** Peter K. Wehrli: „Katalog von Allem, 1111 Nummern aus 31 Jahren“ (Knaus Verlag, München 1999) und
Peter K. Wehrli: „Katalog von allem: Vom Anfang bis zum Neubeginn. 1697 Nummern aus 40 Jahren“
(Ammann Verlag, Zürich 2008)

Reise von Graz nach Innsbruck, 22.06.2013

Das leere Abteil, das mich auf eine ruhige Zugfahrt hoffen lässt.

Die Kühle, die mich darin empfängt und nach der Hitze in der Stadt besonders wohl tut.

Der sportlich gekleidete Herr mit schulterlangen Haaren und Radlerschuhen, der leicht außer Atem ins Abteil schlüpft und sich als Soziologieprofessor entpuppt.

Zwei Zugreisende, die sich im Laufe der Fahrt in ein angeregtes Gespräch vertiefen.

Das wechselnde Landschaftsbild, das daneben vorbei gleitet.

Bäume, die sich von Sturm und Regen gepeitscht hin und her biegen.

Der reißende Bach, der wohl bald über die Ufer treten und neue Überschwemmungen verursachen wird.

Hagel, der aufs Zugdach prasselt und die Strasse draußen weiß werden lässt.

Das enge Tal, das gerade mal Platz macht für eine schmale Straße und ein Bahngleis.

Der Hang, der mit seinen Erdrutschen noch an das letzte Unwetter erinnert.

Das Feuerwehrauto am Straßenrand, das ausgerückt ist, um Keller auszupumpen.

Die Fabrik, die verlassen am Ortsrand steht und vermutlich schon bessere Zeiten erlebt hat.

Wanderer, die eingepackt in rote Regenjacken mit engen Kapuzen dem Wetter trotzen.

Der See, der die Regentropfen auffängt und tausende kleine Kreise zeichnet.

Autos in allen Farben, die in einer Kolonne vor der Bahnüberquerung stehen.

Die Kapelle auf der Hügelkuppe, von der ich vermute, dass sie ein beliebtes Ausflugsziel ist.

Die regennasse Wiese, auf der zwei Hasen fangen spielen.

Die junge Frau, die am Fenster im Gang steht und gedankenverloren in die vorüberziehende Landschaft blickt.

Der blaue Himmel, die am Ende des Tals hinter den Bergen zu erkennen ist.

Die Sonne, die vorsichtig hinter den Wolken hervorblinzelt.

Die Familie, die samt Hund über die Sommerwiese läuft und mich mit ihrer Fröhlichkeit ansteckt.

Der Misthaufen, der sich vor einem alten Bauernhof auftürmt und dessen Geruch ich nur ahnen kann.

Schmucke Einfamilien-Häuser unten im Tal, die vom Zug aus wie die kleinen Plastik-Gebäude aus einem DKT-Spiel aussehen.

Die Vororte der großen Stadt, die wie ausgestorben auf kommende Ereignisse zu warten scheinen.

Fünf junge Mädchen, die herausgeputzt und alle in schwarz und weiß gekleidet in die nahegelegene Stadt fahren.

Der Bahnsteig, auf dem ein Dutzend Jugendlicher sich zwischen Unmengen von Koffern und Taschen arrangiert.

Der Badesee, an dessen Ufer nur eine Handvoll Menschen sitzen und die Ruhe genießen.

Der Reisebus, der einsam und verlassen auf einem großen Parkplatz abgestellt ist.

Der schüchterne Reisende, der zaghaft fragt, ob er sich zu mir ins Abteil sitzen darf.

Der Bahnhof, der mir sagt, dass es nun nicht mehr weit bis zu meinem Zielort ist.

Güterzüge, die vollgepackt mit geschnittenem Holz in Reih und Glied auf ihre Abholung warten.

Der Tunnel, der für viele Minuten die Welt um mich herum verschwinden lässt.

Die Lautsprecheransage, die ankündigt, dass mein Zielbahnhof erreicht ist.

Die Erleichterung, die sich nach sieben Stunden Zugfahrt in meinen müden Gliedern ausbreitet.

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